Das wohltemperierte Zelt


Die assoziative Nähe des Titels zu Johann Sebastian Bachs ,,Das wohltemperierte Klavier" ist offensichtlich. 1722 hatte J.S. Bach die 24 Präludien und Fugen vorgelegt, in den verfügbaren Tonarten Dur und Moll. Denn es hatte sich als nötig erwiesen, die Oktave in zwölf gleiche Tonschritte so zu unterteilen und aufeinander abzustimmen, dass das Spielen auf dem Klavier in allen Tonarten harmonisch klänge und der ,,Wolf bei manchen Intervallen nicht mehr heulte".

Nun spricht man in der Musik gern von Klangfarben und in der Malerei von Farbklängen, womit die Nähe beider Künste angedeutet werden soll. Gleichwohl gibt es bedeutende strukturelle Unterschiede. Denn Musik entwickelt sich in der Zeit - bestehend aus Tönen und Rhythmus, Malerei ist mit einem Blick erfassbar und ihre Farbklänge sind sozusagen unendlich in ihrer Chromatik. Die Systematisierung der Malerei wurde zwar immer wieder seit der Renaissance versucht, vornehmlich in den entsprechenden Farbenlehren (z.B. Goethe oder Delacroix) und erlangte gewiss in der Bauhaus-Ästhetik (J. Itten) einen Höhepunkt. Dennoch blieb es bei Versuchen und Annäherungen.

Helmut Vakily, ein deutsch-persischer Maler, hat sich bereits seit den siebziger Jahren in seiner partiell konstruktiven Malerei mit einer gewissen Systematik den Raumzeltbildem gewidmet. Doch diese Variationen zum Thema ,,Das wohltemperierte Zelt" lassen ihn einen neuen Weg in der Kunst der Wiederholung und Variation einschlagen.

Farbfeld und Gestik

Seit Juni bis Dezember 2008 arbeitete Helmut Vakily an dieser Reihe von Zeltbildern. Es sind etwa 80 Blätter, immer im Format 60 : 60 cm, Acryl auf Papier. Sein Prinzip besteht darin, dass der Künstler die beiden geometrischen Hauptformen, die beiden Zelte, in ihrer Stellung zueinander und in ihrer Anordnung auf den Blättern durch eine Zeichnung auf Pergament-Papier festgelegt hat. Das bedeutet, dieses vorgegebene Grundschema ist statisch und auf allen Blättern vorhanden. Es bedeutet aber nicht, dass das vordere Zelt stets das obere auch überschneidet. Es kann auch umgekehrt sein, wodurch die Räumlichkeit der beiden Zelte zueinander verändert wird. Dazu wird aber farblich und im Umraum variiert und abgewandelt, so dass man Tatsächlich von variationsreichen Wiederholungen sprechen kann.

So wandeln die ersten 42 Blätter die Zelte in einer Abfolge von Rot ab. Es folgen jeweils 7 Blätter in Weiß, Grün und Blau und auch in dunkleren Tönen (auch in Erdfarben).


Die Titel wie ,,Schnee im August" oder "Transparente Stadt" können eine Verständnis- oder auch Interpretationshilfe sein oder auch gerade nicht, weil sie narrative Elemente in die Bildwelt bringen, die nur bedingt anwesend sind.

Wichtiger scheint mir der verbale Ansatz des Künstlers selbst zu sein, der gelegentlich in einem Brief formuliert hat:

„Was passiert genau, wenn mich die eigene Arbeit zu einer großangelegten Serie anregt? Werden diese Bilder reine Nachahmung oder gelingt das Gegenteil von alledem?“

Betrachten wir miteinander die große Serie der roten Bilder. Schon auf den ersten Blick fällt auf, dass die Variationsbreite trotz der festgelegten Bereiche so groß ist, dass man zunächst gar nicht erkennt, dass hier ein geometrisches Motiv durchgespielt wird - wie vielleicht die Abfolge der Präludien und Fugen von J.S. Bach. ,,Schnee im August" beispielsweise zeigt die beiden Mehrecke (Zelte oder Pyramiden), durch eine Ziehfeder mit ihrer Linie exakt begrenzt. Der Innenraum selbst weist verschiedene Rots auf, durchaus nicht homogen, vielmehr unterschiedlich und differenziert, bisweilen wird sogar der weiße Grund sichtbar. Das heißt, dass Helmut Vakily mit dem Rundpinsel sehr bewusst nicht die gesamte Fläche stupfend abdeckt, die Flache franst aus und zeigt so isolierte Tupfer und bisweilen auch hingewischte Teile.

„Fegender Pinsel“
Als Gegensatz dazu ist das obere Zelt markanter und vehementer strukturiert. Hier kam vor allem der Flachpinsel zum Einsatz mit seiner Gestik und Dynamik. Seine Pinselspuren sind sehr deutlich sichtbar und werden somit als gestalterisches Mittel eingesetzt. Diese Partien dokumentieren eine Art gestischer oder auch informeller Peinture. Neben verschiedenartigen Rottönen besteht die Fläche zusätzlich noch aus blau-grünen Farbspuren. Mit diesen Dunkelheiten und dem temperamentvollen Pinselduktus bildet das obere Zelt die Antithese zum helleren und weit mehr homogenen Zelt links darunter.

In demselben Brief charakterisiert Helmut Vakily noch einmal die beiden Zelte. Er konstatiert:

„Das formale Grundmotiv, ein im Flug befindliches Zelt (Kippbewegung) sowie ein schwebendes Zelt verharren immer in gleicher Größe und gleicher Position, unbeirrt und ausdauernd, während sich das übrige Umfeld immerzu ändert."


Vergleicht man die beiden Zelte der übrigen Serie lässt sich das Gesagte Helmut Vakilys nur bestätigen: Sie sind stets identisch. Was sich ändert, ist immer das Umfeld oder Ambiente. Bei dem Werk „Schnee im August“ zeigt das Umfeld im unteren Bereich viele weiße Teile. Es ist also kaum gegliedert und bietet dem Auge nach den oberen Hauptmotiven Leere und Beruhigung.

Ganz anders wiederum „Raum- und Flugzelt mit Kreuz“. Hier ist besonders der untere Teil in geometrische Räumlichkeiten gegliedert, die gleichwohl auch irreal sein können. Wir vermeinen Durchblicke zum Himmel wahrzunehmen, Wolken oder auch schwebende Konstruktionen. Links oben dagegen wirkt eine reine Farbfläche, die mit ihrem dunklen Rot die übrige Komposition neutralisiert.

Besonders komplex und vielschichtig erscheint mir das Werk „Transparente Stadt“. Hier wirken die Zelte mehrfach aufgefächert und sind in ihrer Räumlichkeit mit den übrigen Teilen verschränkt. Es ist ein dichtes Gefüge dreidimensionaler Möglichkeiten. Aber auch Objekthaftes wie Grasbüschel oder Schubladen werden wahrmehmbar. Getupftes und Gestisches verbinden sich zu starken Aussagen.

Die Serie der blauen Bilder erweist sich ebenfalls als Faszinosum. „Im Dunkel und im Licht“ veranschaulicht dem Betrachter die Gegens´ätze von Statik und Bewegung. Das geometrische Linienwerk auf der rechten Bildseite ist der ruhende Pol. Die beiden Zelte hingegen (schwebend und fliegend) dynamisieren bereits die Komposition. Geschwindigkeit und Kraft freilich gehen von der gestischen Pinselführung aus. Es ist wie bei den Zen-Meistern mit ihrem Einsatz des „fegenden Pinsels“, der schnell und sicher über die Fläche geführt wird. Die Spur von Bewegung und Atem wird so festgehalten. „Raum- und Flugzelt mit Schublade“ zeigt das Prinzip noch deutlicher. ,,Der fegende Pinsel", dynamisch und schnell geführt, dokumentiert Kraft und Energie des Malprozesses. Kontrastiert wird sie mit dem konstruktiven Umfeld, so dass sich beide Elemente gegenseitig bedingen und auch interpretieren.

Ein wesentliches Merkmal der Musik wie Motivwiederholung und Variation bestimmen somit diese Serie der Zeltbilder. ,,Das wohltemperierte Klavier" von J.S. Bach führt uns vielleicht auch näher zum Werk von He1mut Vaki1y mit seiner kristallinen Klarheit. Präzision, aber auch Vieldeutigkeit.

Der Autor:
Dr. Horst G. Ludwig, ein Spezialist für die Malerei in München des 19. und 20. Jahrhunderts, ist seit 1970 mit zahlreichen Standartwerken zu diesem Thema hervorgetreten. Außerdem hat der promovierte Kunsthistoriker Ausstellungen zu diesen Epochen organisiert und arbeitet freiberuflich auch als kunsthistorischer Gutachter. 1997 erschien im Heinrich Hugendubel Verlag sein umfangreicher Band "Vom Blauen Reiter zu Frisch gestrichen: Malerei in München im 20. Jahrhundert".